Gründerinnen aufm Kieker #2: CamilloKino 2.0

In unserer neuen Serie beleuchten wir Kulturhanse-Gründer*innen samt ihrer Ideen! Franzi Böhm hat es geschafft: Zehn Monate Stipendium beim Ahoj Görlitz liegen hinter ihr. Erfahrt, wie sie und ihre Mitstreiter*innen ihr Konzeptkino Camillkino und sich auf die nächste Ebene gebracht haben.

 „Einige sagen mir, es sei sinnlos, aber ich halte die Fahne hoch und bleibe.“

Franziska ist seit 2009 in Görlitz, kommt aus dem Dresdner Raum und ist zum Studieren hergekommen. Hier hat sie ihren Bachelor in Soziale Arbeit und dann Management des sozialen Wandels abgeschlossen. Nur wenige Student*innen wie sie bleiben hängen, die meisten gehen wieder.

„Görlitz ist sehr konservativ und rechts durchsetzt. Wir haben eine hohe Arbeitslosigkeit. Dabei hat die Stadt unheimlich viel Potential: Hier gibt es kein kulturelles Überangebot und viel Leerstand, viel Potential. Eine Stadt der direkten Wege. Klar, einige sagen mir, es sei sinnlos, aber ich halte die Fahne hoch und bleibe. Ich will Görlitz nicht seinem Schicksal überlassen, es gäbe eine traurige Zukunft.“

Von der Rolle: das Programmkino Camillo

Seitdem Franziska in Görlitz ist, engagiere sie sich zusammen mit ihrer Mitstreiterin im Ahoj, Yasmin, ehrenamtlich in dem Verein „Filmclub von der Rolle ´94“. Das ehrenamtliche Team besteht im Kern aus fünf Personen sowie weiteren sieben aktiven Vereinsmitgliedern und externen Helfer*innen. Sie selbst ist Vorstandsvorsitzende. 2015 hat der Verein das Programmkino Camillo in der Görlitzer Altstadt übernommen. Daneben setzt die sozio- kulturelle Initiative mit einem klaren Bildungsauftrag aber auch mobile Projekte um. So schaffen sie Denkräume bzw. sind ein Ort der Empathiebildung und des partizipativen Erlebens. Camillo möchte regionale, junge und unabhängige (Film-)Kunst stärken und als Schutz- und Diskursraum dienen, der sich klar für eine vielfältige Gesellschaft einsetzt.

@Steve Naumann
@Marek Georgi
@Marek Georgi

Mehr als nur ein Kino, mehr als nur ein Leben

Trotzdem das Camillo vor Ort wichtige kulturelle Bildungsarbeit leistet, erhält es nur sporadisch Förderung. „Dabei schaffen wir auch Bleibeperspektiven. Denn für junge Menschen braucht es nicht nur harte Faktoren, wie einen Ausbildungsplatz oder bezahlbaren Wohnraum, um hier zu bleiben. Es braucht auch Diskursräume, ein kulturelles Angebot.“, meint Franziska.

Das klingt nach viel Arbeit – ist es auch. Während ihres Studiums war das kein Problem, da konnte sie, so wie die anderen, das Ehrenamt irgendwie um das eigene Leben drum herumbasteln. Danach veränderte sich das Engagement im Verein, weil die ersten zu Arbeiten anfingen, Familien gründeten. Da war plötzlich nicht mehr so viel Zeit für den Verein da, der zu Beginn des Stipendiums strauchelte. Franziska resümiert ihre damalige Situation:

„Ich wollte nicht das große Geld machen, sondern überleben. Aber mit 15 Stunden Erwerbsarbeit in einem Sozialcafé, den 30 Stunden Ehrenamt, einem Hausprojekt, das eine Baustelle ist, hatte ich irgendwann keine Freizeit mehr. Es trat eine Lebensmüdigkeit ein. Ich konnte so nicht weitermachen und musste mich entscheiden.“

„Meine Lebensaufgabe soll dieses Kino sein.“

Sie entschied sich zusammen mit Yasmin dafür, zu kämpfen. Weg aus dem Fördermittelsumpf, nicht weiter von kleiner Projektfinanzierung zur nächsten schwimmen! Ihr Ziel: Nach Jahren des Ehrenamts wollten Franziska und Yasmin komplett selbstständig für das Kino arbeiten. Um die Organisationsstruktur zu professionalisieren, brauchen sie aber Unterstützung, um den rechten Weg zu finden, Austausch, mehr Sichtbarkeit und Anerkennung. Daher bewarben sie sich um ein Stipendium im ahoj Görlitz.

@Marek Georgi
@Steve Naumann
@Steve Naumann

Butter bei die Fische: Das Stipendium

„Das ahoj-Team hat uns 10 Monate lang zur Seite gestanden, viele Fragen gestellt und uns darin geschult, Ideen auf’s Papier zu bringen bzw. zu konkretisieren. Wer hätte gedacht, dass unsere Projektbausteine in die Kästchen eines Business Model Canvas passen?“

Während Yasmin parallel ihre Masterarbeit zur Organisationsentwicklung im Camillo schrieb, kümmerte sich Franzi um Förder- und Finanzierungsmodelle des Camillos 2.0. Mit der Zeit kristallisierte sich zunehmend heraus, dass sie unabhängig, aber in enger Partnerschaft mit dem ehrenamtlichen Filmclub von der Rolle ‘94 e.V. gründen müssten. Ein Fokus soll dabei auf die intersektionale Bildungsarbeit gelegt werden, nicht nur mithilfe von Filmformaten, sondern multimedial mit Workshops, Vorträgen, Performances für und mit Jugendlichen und Erwachsenen.

„Wir haben durch die Zusammenarbeit mit dem ahoj erfahren, wo wir persönlich hinwollen, was die Grenzen unserer (ehrenamtlichen) Arbeit sind und welche Projektbausteine wir auslagern bzw. abgeben müssen.“

Nach dem Stipendium ist vor dem Stipendium!

Auch wenn das Stipendium nun zu Ende ist, arbeiten weiter an ihrer Idee und der Umsetzung und freuen sich, auf ein gewachsenes Netzwerk zurückgreifen zu können. Franzi tüftelt derzeit weiter an der persönlichen Ausgründung. Yasmin und Franzi stehen außerdem in engem Austausch mit ihrem ehrenamtlichen Verein und werden den während des Stipendiums erarbeiteten, professionalisierten Organisationsaufbau auf einer bald stattfindenden Vereinsklausur mit allen Mitgliedern besprechen.

Update 2023: Und was ist seither passiert, Franzi?

Franzi resümierte: „Nach dem Stipendium stellte ich den Verein vor die Wahl. Nachdem die Fördermittel für meinen Job ausgelaufen waren, war klar: Entweder ich suche mir einen neuen Job, mache einen Neuanfang ohne das CamilloKino oder ich werde für meine Arbeit beim Verein bezahlt.“ Der Verein entschied sich für letzteres und finanzierte Franzis Stelle vor, bis er*sie selbst eine Förderung akquirierte. Ende 2022 hat das CamilloKino bereits zwei hauptamtliche Mitarbeiter*innen. Im nächsten Jahr werden dann noch drei bis vier weitere Stellen für Buchhaltung, Fördermittelakquise, Projektassistenz und Medienpädagogik hinzukommen. Yasmin hat nach dem Studium ein klasse Jobangebot bekommen und entschied sich, den Verein nur noch ehrenamtlich zu unterstützen.

Auch das Kino hat sich technisch professionalisiert. Zum einen ist es nun mit seinen neuen Abspielgeräten auf dem aktuellen Stand. Zum anderen eröffnete das CamilloKino den ersten virtuellen Kinosaal Sachsens: Canapa. Außerdem fusionierten die ehemaligen Stipendiatinnen mit einer weiteren Grün- der*innengruppe aus dem ahoj Görlitz. Gemeinsam betreiben sie seit 2021 einen FLINTA*-Raum (FLINT*erie) in Görlitz. Sie verstehen sich dabei auch als Sprachrohr des queeren Netzwerks im ländlichen Raum, beraten und machen Lobbyarbeit. „So sind wir als Vertretung des Queeren Netzwerks des Landkreises Görlitz auch Teil des Beirats der sächsischen Landesarbeitsgemeinschaft Vielfalt des Ministeriums für Justiz und Gleichstellung geworden. Das heißt, dass wir hier am Drücker sind und die Rahmenbedingungen auf Landesebene mitbestimmen und gestalten können. Wir überarbeiten derzeit gemeinsam mit anderen queeren NGOs das Papier des Landesaktionsplan Vielfalt – quasi eine gesetzliche Grundlage zur Stär- kung und Förderung queerer Arbeit in Sachsen. Gleichzeitig ist das Mitwirken beim Beirat eine Anerkennung unserer Stellung und Wertschät- zung unserer Arbeit – auch mit finanziell planbaren Ressourcen“, erklärte Franzi stolz

 

Danke für das Titelfoto an Paul Glaser.